Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft

Pressemitteilung Nr. 23/2005 vom 4. März 2005

Beschluss vom 22. Februar 2005
2 BvR 109/05

Die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Untersuchungsgefangenen, der sich seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindet, gegen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft war erfolgreich. Die 2. Kammer stellte fest, dass die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts (OLG) und des Landgerichts (LG) den Beschwerdeführer in seinem Freiheitsgrundrecht verletzen. Die Sache wurde an das OLG zurück verwiesen. Dieses hat unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht angeführten Gesichtspunkte über die Frage der Untersuchungshaft erneut zu entscheiden.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer (Bf) befindet sich seit dem 5. August 2002 in Untersuchungshaft. Mit Urteil vom 1. Dezember 2003 verurteilte ihn das LG unter anderem wegen ausbeuterischer Zuhälterei und Menschenhandels zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Neben dem Bf wurden fünf Mitangeklagte zu Freiheitsstrafen verurteilt. Gegen das Urteil legten der Bf, die Staatsanwaltschaft und zwei der Nebenklägerinnen Revision ein. Das LG stellte ihre Revisionsbegründungen teilweise erst nach eineinhalb bzw. zweieinhalb Monaten der jeweiligen Gegenpartei zu. Nach Übersendung der Akten durch die Staatsanwaltschaft an den Generalbundesanwalt leitete dieser die Akten vier Monate später mit einer Stellungnahme an den Bundesgerichtshof (BGH) weiter. Der BGH bestimmte drei Wochen später, am 22. Dezember 2004, Termin zur Hauptverhandlung über die Revisionen der zwei Nebenklägerinnen sowie der Staatsanwaltschaft auf den 15. Juni 2005.

Mit Beschluss vom 7. Dezember 2004 wies das LG den Antrag des Bf auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls zurück. Das OLG verwarf seine hiergegen gerichtete Beschwerde. Die Vb hatte Erfolg.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) gebietet in Haftsachen die angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Das Beschleunigungsgebot gilt auch nach Erlass eines erstinstanzlichen Urteils und ist bei der Anordnung der Fortdauer von Untersuchungshaft zu beachten.

Das OLG hat in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt, dass Umstände vorliegen, die den Schluss auf eine erhebliche, dem Staat zuzurechnende vermeidbare Verfahrensverzögerung nahe legen. Zu berücksichtigen ist hier zum einen die verzögerte Zustellung der Revisionsbegründungen. Hinzu tritt die unter Berücksichtigung der konkreten Bearbeitungsfristen für die Absetzung des Urteils, die Erstellung der Revisionsbegründungen und die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft sowie des revisionsrechtlichen Prüfungsumfangs nicht nachvollziehbare lange Bearbeitungsdauer durch den Generalbundesanwalt. Zu berücksichtigen ist schließlich die weiträumige Bestimmung des Termins zur Hauptverhandlung durch den BGH. Mit diesen, sich zumindest auf sieben Monate summierenden Verzögerungen des Rechtsmittelverfahrens setzt sich das OLG nicht hinreichend auseinander. Es gibt an Stelle der gebotenen Einzelfallanalyse nur blankettartige Argumentationsmuster ab.

Darüber hinaus hat das OLG maßgebliche Abwägungsgrundsätze nicht beachtet. Die verhängte Freiheitsstrafe kann nicht ohne weiteres als Maßstab für die mögliche Länge der Untersuchungshaft dienen. In erster Linie kommt es auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an. Diese kann etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängen. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung können aber bei erheblichen, dem Staat zuzurechnenden vermeidbaren Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft herangezogen werden.

Auch die Erwägung des OLG, dass der Bf mit Wahrscheinlichkeit eine deutlich höhere Strafe zu erwarten habe, hält einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Ungeachtet der Frage, ob eine solche Prognose im Rechtsmittelverfahren überhaupt angestellt werden kann, fehlt es auch hier an einer hinreichenden Begründung durch das OLG. Allein der Umstand, dass der BGH nur hinsichtlich der Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerinnen, nicht aber des Bf, Termin zur Hauptverhandlung bestimmt hat, rechtfertigt noch keine Aussage über die Erfolgsaussichten der Revision.

Karlsruhe, den 4. März 2005