Bundesverfassungsgericht

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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen die Dauer von "Organisationshaft"

Pressemitteilung Nr. 105/2005 vom 28. Oktober 2005

Beschluss vom 26. September 2005
2 BvR 1019/01

Das Bundesverfassungsgericht hat sich erstmals zur Zulässigkeit der sog. Organisationshaft geäußert.

Das Strafgesetzbuch ordnet in § 67 StGB an, dass in den Fällen, in denen die Unterbringung im Maßregelvollzug neben einer Freiheitsstrafe angeordnet wird, grundsätzlich die Maßregel vor der Strafe vollzogen wird. Organisationshaft liegt vor, wenn ein Verurteilter, für den nicht sofort ein Unterbringungsplatz im Maßregelvollzug zur Verfügung steht, die Zwischenzeit in der "normalen" Strafhaft verbringt. Der Beschwerdeführer wurde wegen Betäubungsmitteldelikten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt; zugleich wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Da ein Unterbringungsplatz in einer Entziehungsanstalt nicht gleich zur Verfügung stand, verblieb der Beschwerdeführer nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils zunächst in der Justizvollzugsanstalt. Drei Monate später wurde er schließlich in einer Entziehungsanstalt untergebracht. Rechtsmittel des Beschwerdeführers gegen die Dauer der "Organisationshaft" blieben vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt er, die Fortdauer der "Organisationshaft" verletze ihn wegen des Fehlens einer darauf bezogenen gesetzlichen Regelung in seinen Grundrechten: Während des Wartens auf das Freiwerden eines Platzes im Maßregelvollzug dürfe er nicht in Haft gehalten werden. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin stellte die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts fest, dass die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Freiheit der Person verletzen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist die "Organisationshaft" zwar nicht grundsätzlich verfassungswidrig. Die Gerichte hätten hier jedoch - in der irrigen Annahme einer festen Zeitspanne von drei Monaten für die Organisation der Unterbringung - nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Vollstreckungsbehörde unverzüglich die Überstellung des Beschwerdeführers in den Maßregelvollzug hätte herbeiführen müssen.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

Die Freiheitsstrafe und die Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verfolgen unterschiedliche Zwecke. Anders als die Freiheitsstrafe ist die Maßregel der Unterbringung auf eine Therapie hin ausgerichtet. Beide Maßnahmen können deshalb auch nebeneinander angeordnet werden. Das Grundrecht auf Freiheit der Person erfordert es aber, sie einander so zuzuordnen, dass die Zwecke beider möglichst weitgehend erreicht werden.

Nach der gesetzlichen Regelung ist die Maßregel grundsätzlich vor der Strafe zu vollziehen, um die "therapeutisch fruchtbare Zeit" zu nutzen. Die "Organisationshaft" dient der Vorbereitung der Maßregel. Sie führt aber dann zu einer gesetzeswidrigen und dem zu vollstreckenden Urteil widersprechenden Umkehrung der Vollstreckungsreihenfolge, wenn die Vollstreckungsbehörde nicht unverzüglich die Überstellung des Verurteilten in den Maßregelvollzug einleitet und herbeiführt. Denn in der Justizvollzugsanstalt kann die durch die Maßregelanordnung bezweckte Behandlung des Verurteilten nicht gewährt werden.

Die von Verfassungs wegen noch vertretbare Organisationsfrist kann nicht allgemein, sondern nur im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der Bemühungen der Strafvollstreckungsbehörde um eine beschleunigte Unterbringung des Verurteilten im Maßregelvollzug bestimmt werden. Im Hinblick auf das Freiheitsgrundrecht ist es verfassungsrechtlich geboten, dass die Vollstreckungsbehörden auf den konkreten, von der Rechtskraft des jeweiligen Urteils abhängigen Behandlungsbedarf unverzüglich reagieren und die Überstellung des Verurteilten in eine geeignete Einrichtung beschleunigt herbeiführen.

Diesen Anforderungen haben die angegriffenen Entscheidungen nicht Rechnung getragen. Auf der Grundlage der Annahme einer festen Zeitspanne von drei Monaten für die Organisation der Unterbringung haben die Gerichte im Ergebnis lediglich deren Einhaltung, nicht aber die Umstände für das Zustandekommen einer nahezu dreimonatigen Organisationsfrist geprüft. Die fachgerichtliche Behauptung, die Vollstreckungsbehörde habe sich in der gebotenen Zeit und mit der gebotenen Intensität um einen Unterbringungsplatz gekümmert, wird in den Beschlussgründen nicht erläutert und deckt sich nicht mit dem tatsächlichen Ablauf der Organisation der Unterbringung des Beschwerdeführers.

Da der Beschwerdeführer trotz zwischenzeitlicher Überstellung in eine Entziehungsanstalt ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung hat, ob die gegen ihn vollzogene "Organisationshaft" grundrechtswidrig war, wird die Sache zu erneuter Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Karlsruhe, den 28. Oktober 2005