Bundesverfassungsgericht

Sie sind hier:

Gerichtliche Prüfungspflichten angesichts nicht gegebener landesgesetzlicher Grundlage für Disziplinarmaßnahmen im Maßregelvollzug

Pressemitteilung Nr. 113/2007 vom 29. November 2007

Beschluss vom 12. November 2007
2 BvR 9/06

Der Beschwerdeführer ist im Maßregelvollzug in einer saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie untergebracht. Als Reaktion auf einen Verstoß des Beschwerdeführers gegen zuvor vereinbarte Verhaltensregeln wurde gegen ihn ein Zimmerarrest von einer Woche verhängt. Das saarländische Maßregelvollzugsgesetz sieht, wie die entsprechenden Gesetze der anderen Länder, Disziplinarmaßnahmen nicht vor. Nach Auffassung der Klinikleitung handelte es sich bei dem Zimmerarrest um eine therapeutische Maßnahme im Sinne "negativer Verstärkung", auf die zurückgegriffen werden müsse, da ein Einsatz belohnender Handlungen als "positiver Verstärker" aufgrund der Haltung des Beschwerdeführers nicht in Betracht komme. Das vom Beschwerdeführer angerufene Landgericht bestätigte die Maßnahme als rechtmäßig. Den behandelnden Ärzten sei im Rahmen ihrer fachlich-medizinischen Tätigkeit ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, der einer gerichtlichen Kontrolle von außen weitgehend entzogen sei. Das Oberlandesgericht verwarf die Rechtsbeschwerde als unzulässig, da die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung des Landgerichts weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten sei.

Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde war erfolgreich. Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte fest, dass das Oberlandesgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes verletzt habe. Das Oberlandesgericht durfte sich nicht der näheren Prüfung und Beantwortung der Rechtsfrage entziehen, ob für die verfahrensgegenständliche Maßnahme eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage bestand.

Der Klärung hätte zunächst bedurft, ob der gegen den Beschwerdeführer verhängte Zimmerarrest überhaupt einer Einordnung als Behandlungsmaßnahme zugänglich war. In Rechtsprechung und Schrifttum ist umstritten, ob die Beantwortung unerwünschter Verhaltensweisen von Maßregelvollzugspatienten mit sanktionsartigen Maßnahmen, die den Patienten im Sinne einer "negativen Verstärkung" beeinflussen und damit präventiv wirken sollen, als Behandlungsmaßnahme anzusehen ist oder ob derartige Reaktionen des Klinikpersonals auf Regelverstöße der Patienten den Charakter einer in den Landesgesetzen zum Maßregelvollzug nicht vorgesehenen Disziplinarmaßnahme haben.

Auch soweit davon auszugehen wäre, dass - ungeachtet funktionaler Übereinstimmungen zwischen disziplinarischen und "negativ verstärkenden" Reaktionen auf Fehlverhalten - das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für Disziplinarmaßnahmen im Maßregelvollzug nicht die Möglichkeit ausschließt, negative Verstärker als Behandlungsmaßnahmen einzusetzen, wäre damit die Frage einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für derartige Maßnahmen noch nicht beantwortet. Aus dem Umstand, dass sachgerechte Behandlung Spielräume erfordert, die der gesetzlichen Normierbarkeit und gerichtlichen Kontrolle des therapeutischen Vorgehens Grenzen setzen, folgt nicht, dass dieser Spielraum unbegrenzt sein und der Gesetzgeber sich daher jeder näheren Normierung der Voraussetzungen und Grenzen eingreifender Behandlungsmaßnahmen enthalten müsste und dürfte.

Die Frage der ausreichenden gesetzlichen Grundlage und in diesem Zusammenhang die einschlägigen einfachgesetzlichen Regelungen wären außerdem unter dem speziellen Gesichtspunkt zu würdigen gewesen, dass sich der Beschwerdeführer gegen eine seinem erklärten Willen zuwiderlaufende, zwangsweise gegen ihn verhängte Behandlungsmaßnahme gewandt hat. Die Ermächtigungsgrundlage für eine Zwangsbehandlung im Maßregelvollzug ist nach überwiegender Auffassung den einschlägigen landesgesetzlichen Bestimmungen zu entnehmen. Nach der für den saarländischen Maßregelvollzug geltenden Bestimmung bedarf die Behandlung jedoch grundsätzlich der Einwilligung des Patienten oder seines gesetzlichen Vertreters bzw. Betreuers. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz sieht das Gesetz lediglich für die zwangsweise Behandlung zur Abwendung von Lebensgefahr, schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Patienten oder Gefahr für die Gesundheit anderer Personen vor.