Bundesverfassungsgericht

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Überwiegend erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines türkischen Staatsangehörigen gegen seine Auslieferung in die Türkei

Pressemitteilung Nr. 48/2024 vom 4. Juni 2024

Beschluss vom 21. Mai 2024
2 BvR 1694/23

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines türkischen Staatsangehörigen gegen seine Auslieferung in die Türkei überwiegend stattgegeben.

Der Beschwerdeführer wurde in der Türkei wegen Diebstahls und „Qualifizierten Diebstahls“ in mehreren Fällen zu einer mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Im August 2022 ordnete das Oberlandesgericht gegen ihn die Auslieferungshaft an. Ende Januar 2023 versuchte der Beschwerdeführer, sich das Leben zu nehmen, und fügte sich dabei schwere Verletzungen zu, die ständiger ärztlicher Behandlung bedürfen. Im Februar 2023 wurde der Auslieferungshaftbefehl in Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer inhaftiert. Mit Beschlüssen vom 13. März 2023 und 1. November 2023 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafvollstreckung an die Republik Türkei für zulässig. Insbesondere seine Suizidalität stehe dem nicht entgegen. Hiergegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde.

Soweit das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt, verletzt es diesen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG). Das Oberlandesgericht hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könnte. Soweit sie die Zulässigkeit der Auslieferung betreffen, werden die angegriffenen Beschlüsse aufgehoben und wird die Sache in diesem Umfang an das Oberlandesgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Sachverhalt:

Dem Auslieferungsverfahren liegen insgesamt vier Verurteilungen des Beschwerdeführers in der Türkei zugrunde. Gegen ihn wurde eine mehrjährige Gesamtfreiheitsstrafe festgelegt. Im Juli 2022 ersuchte die Republik Türkei die deutschen Behörden um Auslieferung des Beschwerdeführers. Im August 2022 ordnete das Oberlandesgericht gegen den Beschwerdeführer die Auslieferungshaft an. Am 28. Januar 2023 unternahm der Beschwerdeführer, der sich zu dieser Zeit wegen einer Verurteilung in anderer Sache im Maßregelungsvollzug befand, einen Suizidversuch. In einem Schreiben vom 8. Februar 2023 führten der Ärztliche Direktor und die stellvertretende Ärztliche Direktorin des Maßregelvollzugszentrums aus, der Beschwerdeführer sei nicht ausreichend von seiner Suizidalität distanziert, was an den äußeren Umständen der drohenden „Abschiebung“ und Haft in der Türkei liege. Nach der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelungsvollzug am 23. Februar 2023 wurde der Auslieferungshaftbefehl in Vollzug gesetzt und der Beschwerdeführer inhaftiert.

Mit Beschluss vom 13. März 2023 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers zur Vollstreckung von zwei der vier Strafurteile für zulässig. Insbesondere stehe seine Suizidalität der Auslieferung nicht entgegen. Die Haftanstalt Yalvaç verfüge über einen festangestellten Psychologen. Damit könne suizidalen Tendenzen ausreichend belastbar entgegengewirkt werden.

In der Folgezeit übersandte der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht zwei weitere ärztliche Stellungnahmen. In der Stellungnahme des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt vom 21. März 2023 wird dringend von einer „Abschiebung“ in die Türkei abgeraten. Der Beschwerdeführer bedürfe im Nachgang zu seinem Suizidversuch der täglichen medizinischen Behandlung. Diese spezifische Behandlung sei in der Türkei nicht durchführbar. Die Stellungnahme eines Facharztes für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin vom 13. April 2023 kommt zu dem Ergebnis, der Beschwerdeführer sei nicht reise- beziehungsweise transporttauglich.

Mit angegriffenem Beschluss vom 1. November 2023 erklärte das Oberlandesgericht die Auslieferung des Beschwerdeführers an die Republik Türkei zum Zwecke der Strafvollstreckung auch wegen der Strafen aus den zwei übrigen Urteilen für zulässig. Was die fortbestehende Suizidalität des Beschwerdeführers angehe, hätten die türkischen Behörden den Umfang einer psychologischen Betreuung Inhaftierter in der Türkei dargelegt. Daraus folgten insbesondere ein Programm zur Suizid- und Selbstverletzungsprävention und die Möglichkeit des Gesprächs mit einem festangestellten Psychologen in der Haftanstalt Yalvaç.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer unter anderem gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts vom 13. März 2023 und 1. November 2023. Er sieht sich insbesondere in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt.

Zur Verfahrenssicherung hat die 1. Kammer des Zweiten Senats mit Beschluss vom 4. Dezember 2023 die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der Republik Türkei bis zu einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt. Daraufhin hat das Oberlandesgericht den gegen den Beschwerdeführer erlassenen Auslieferungshaftbefehl aufgehoben.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Hinsichtlich der Entscheidung des Oberlandesgerichts in den Beschlüssen vom 13. März 2023 und 1. November 2023 über die Zulässigkeit der Auslieferung ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Im Rahmen des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens im Vorgriff auf eine Auslieferung sind die Gerichte verpflichtet, den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären und etwaige Auslieferungshindernisse in hinreichender Weise, also in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig, zu prüfen. Dabei unterliegen die deutschen Gerichte bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung der verfassungsrechtlichen Pflicht, zu prüfen, ob die erbetene Auslieferung die gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz verletzt. Sie sind zudem verpflichtet, zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren.

b) Nach diesen Maßstäben hält die Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Es hat nicht ausreichend aufgeklärt, ob der Gesundheitszustand des Beschwerdeführers Maßnahmen zur Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs gebieten könne.

aa) Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) einschlägig, so sind die von diesem in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung einzubeziehen und es muss eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattfinden. Der EGMR hat festgestellt, dass in Abschiebungsfällen ein Verstoß gegen Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vorliegen kann, wenn gewichtige Gründe („substantial grounds“) dafür angeführt werden, dass für den Betroffenen bei der Durchführung einer Abschiebung eine reale Gefahr besteht, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung insofern unterworfen zu werden, als die Möglichkeit einer ernsthaften, schnellen und irreversiblen Gesundheitsverschlechterung infolge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten und ein damit verbundenes intensives Leid beziehungsweise eine erhebliche Verkürzung der Lebenserwartung besteht. Um eine solche Gefahr auszuschließen, hat der Gerichtshof dem mit einer Abschiebungsanordnung befassten Gericht eigene Aufklärungs- und Prüfungspflichten auferlegt. Diese Rechtsprechung lässt sich auf Auslieferungen übertragen.

bb) Die Gründe, aus denen das Oberlandesgericht nach Vorlage der ärztlichen Stellungnahmen vom 8. Februar 2023, 21. März 2023 und 13. April 2023 offenbar davon ausgegangen ist, dass es seinen Aufklärungs- und Prüfungspflichten genügt habe, werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht. Gerade vor dem Hintergrund des bereits durchgeführten Suizidversuchs des Beschwerdeführers bleibt offen, weshalb das Oberlandesgericht von der Hinzuziehung eines Sachverständigen abgesehen hat. Die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen enthielten gewichtige Gründe im Sinne der Rechtsprechung des EGMR für die Annahme, dass im Falle der Durchführung der Auslieferung tatsächlich die Gefahr eines erneuten Suizidversuchs bestehe. Selbst wenn − wie das Oberlandesgericht ausführt − das fachärztliche Gutachten vom 13. April 2023 Tendenzen eines „Gefälligkeitsgutachtens“ aufweist, genügt die Zurückweisung der dortigen Erkenntnisse den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Denn auch der Anstaltsarzt der Justizvollzugsanstalt sowie der Ärztliche Direktor des Maßregelvollzugszentrums und seine Stellvertreterin beurteilten das Risiko eines erneuten Suizidversuchs aus fachlicher Sicht als hoch und rieten von einer „Abschiebung“ des Beschwerdeführers in die Türkei dringend ab. Soweit das Oberlandesgericht wiederholt auf die Möglichkeit der psychologischen Betreuung in der Justizvollzugsanstalt Yalvaç verweist, bleibt schon ungeklärt, ob dies für eine adäquate Behandlung des suizidalen Beschwerdeführers genügt. Es erscheint zweifelhaft, ob ein einziger Psychologe, der für sämtliche Häftlinge in der Haftanstalt Yalvaç verantwortlich ist, allein die zeitlichen Kapazitäten hat, den Beschwerdeführer adäquat zu betreuen. Der pauschale Verweis hierauf ist jedenfalls aufgrund der Vorgeschichte im Fall des Beschwerdeführers nicht ausreichend. Überdies übersieht das Gericht, dass die Suizidgefahr nicht nur nach einer erfolgten Auslieferung, sondern gerade auch während des Transports bestehen kann. Unter Berücksichtigung dieser Umstände und angesichts der eindringlichen Warnung von insgesamt vier Ärzten hätte sich das Oberlandesgericht veranlasst sehen müssen, zumindest aufzuklären, ob und wie während des Transports die Verhinderung eines erneuten Suizidversuchs sichergestellt werden könne, oder − bei fortbestehenden Zweifeln an der Tragfähigkeit der ärztlichen Stellungnahmen − ein Sachverständigengutachten zur Transport- und Haftfähigkeit des Beschwerdeführers einholen müssen.