BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 22/12 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…,
gegen a) | den Beschluss des Verwaltungsgerichthofs Baden-Württemberg vom 8. November 2011 - 1 S 2538/11 -, |
b) | den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 16. August 2011 - 4 K 917/11 -, |
c) | die Anordnungen der Polizeidirektion Freiburg vom 5. September 2011, vom 11. Juli 2011, vom 18. Mai 2011, vom 21. März 2011, vom 28. Januar 2011, vom 2. Dezember 2010, vom 3. November 2010, vom 7. Oktober 2010 und vom 31. August 2010 - SPH/1421106/2010 - |
hier: | Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung |
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Kirchhof
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 27. Februar 2012 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
Der bei verständiger Auslegung mit einer Verfassungsbeschwerde verbundene Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung richtet sich gegen die längerfristige Observation des aus der Sicherungsverwahrung entlassenen Beschwerdeführers.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde wegen zwei Verbrechen der Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Die später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für konventionswidrig erklärte Sicherungsverwahrung wurde im Jahr 2010 für erledigt erklärt. Gleichzeitig mit der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Sicherungsverwahrung am 10. September 2010 ordnete die Polizeidirektion Freiburg die längerfristige Observation des Beschwerdeführers zunächst bis zum 7. Oktober 2010 an. Seither wurde die längerfristige Observation, die offen und mit „Gefährdetenansprache“ durchgeführt wird, durch Anordnungen mit einer Geltungsdauer von zunächst vier, später jeweils acht Wochen weiter verlängert.
2. Einen Antrag des Beschwerdeführers, im Wege der einstweiligen Anordnung die Verpflichtung auszusprechen, seine Observation umgehend einzustellen, lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 16. August 2011 ab. Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 8. November 2011 zurück.
Der Verwaltungsgerichtshof ging davon aus, dass dem Beschwerdeführer kein Anordnungsanspruch zur Seite stehe. In der Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass einiges dafür spreche, dass die längerfristige Observation des Beschwerdeführers (noch) eine Rechtsgrundlage im Polizeigesetz Baden-Württemberg (PolG BW) finde. Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes könne offen bleiben, ob die polizeiliche Maßnahme unmittelbar auf die Regelung des § 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 PolG BW gestützt werden könne oder ob auf die polizeiliche Generalklausel der §§ 1, 3 PolG BW in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung der qualifizierten Tatbestandsvoraussetzungen und verfahrensrechtlichen Sicherungen des § 22 PolG BW zurückgegriffen werden müsse. Denn jedenfalls entbehre die angegriffene polizeiliche Observation nicht einer gesetzlichen Grundlage. In materieller Hinsicht wurde darauf abgestellt, dass auf der Grundlage des im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigenden Vorbringens nicht mit dem erforderlichen Maß an Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, dass von dem Beschwerdeführer keine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit Dritter mehr ausgehe. Als Grundlage der Risikobewertung zog der Verwaltungsgerichtshof neben verschiedenen Umständen in dem seit der Entlassung aus der Sicherungsverwahrung beim Beschwerdeführer beobachteten Verhalten ein noch während der Sicherungsverwahrung erstelltes psychiatrisches Gutachten vom 5. März 2010 heran, wonach bei einer Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ohne Vorbereitung, ohne Erprobung und ohne gesicherten sozialen Empfangsraum von einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit auszugehen sei. Insgesamt wurde die längerfristige Observation im Zeitpunkt der Entscheidung noch als verhältnismäßig angesehen.
3. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine längerfristige Observation und beantragt im Wege einstweiliger Anordnung dem Antragsgegner aufzugeben, die Bewachung des Beschwerdeführers zu unterlassen und diese gänzlich für verfassungswidrig zu erklären. Falls das Gericht per Eilentscheidung keine Abhilfe oder Klärung herbeiführen könne, werde daraus eine Verfassungsbeschwerde.
Die Observation sei verfassungswidrig, weil Kontrolle und Überwachung von aus der Haft Entlassenen ausschließlich Aufgabe der Strafjustiz mit Hilfe von Führungsaufsicht und Bewährungshilfe sei. Für die Notwendigkeit einer Verzahnung von Führungsaufsicht und polizeirechtlichen Maßnahmen bestehe kein Anlass. Die Maßnahmen durch die örtliche Polizei brächten keine zusätzliche Sicherheit und belasteten den Beschwerdeführer unzumutbar. Die Observation führe dazu, dass er faktisch in Isolation leben müsse. Resozialisierungsbemühungen würden behindert und Rechtsschutz erschwert, da das Verfahren nicht rechtsstaatlich ausgestaltet sei.
Das Gutachten, auf das sich der Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs stütze, sei nicht aussagekräftig, da es noch im Rahmen der Vorbereitungen für die Entlassung aus der Sicherungsverwahrung entstanden sei und darauf gezielt habe, durch eine Lockerungserprobung eine weitere Prognosebasis zu schaffen. Im Übrigen habe es eine Prognosedauer von nur wenigen Monaten.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.
Bei verständiger Würdigung ist das Begehren des Beschwerdeführers so auszulegen, dass er gegen die bezeichneten Entscheidungen Verfassungsbeschwerde erhoben und damit verbunden den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt hat.
Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107 <111>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Der Antrag auf Eilrechtsschutz hat jedoch keinen Erfolg, wenn eine Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 111, 147 <152 f.>; stRspr). Ist die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, sind vielmehr die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).
Die erhobene Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Vielmehr wirft das vorliegende Verfahren verfassungsrechtliche Fragen auf, die nur im Hauptsacheverfahren geklärt werden können. Zu prüfen ist insbesondere, ob die von den Verwaltungsgerichten als Rechtsgrundlage für die in Frage stehende Art von Observation herangezogenen Vorschriften des Polizeigesetzes diese Maßnahmen grundsätzlich oder möglicherweise nur vorübergehend und befristet bis zur Schaffung einer eigenen Rechtsgrundlage tragen können und ob dies auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu berücksichtigen gewesen wäre. Diese Fragen können aber nicht im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vor dem Bundesverfassungsgericht geklärt werden, sondern müssen der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde vorbehalten bleiben.
Ist die Verfassungsbeschwerde danach weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, so ist über den Eilantrag anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese führt hier zu dem Ergebnis, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG abzulehnen ist.
Für den Antrag des Beschwerdeführers spricht im vorliegenden Fall, dass er bereits im Jahr 2010 aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurde, so dass die seitdem stattfindende Observation und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe bereits geraume Zeit andauern, gleichzeitig das für die Gefahrprognose des Verwaltungsgerichtshofs maßgebliche Gutachten aber noch vor seiner Entlassung entstanden ist. Andererseits weisen die angegriffenen Entscheidungen substantiierte Hinweise auf, dass von dem Beschwerdeführer möglicherweise ernsthafte Gefahren ausgehen können. Weil das Bundesverfassungsgericht dieses mangels eines aktuellen Gutachtens zur Zeit nicht näher prüfen kann, ist damit für die Entscheidung über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auch eine fortdauernde Gefährlichkeit des Beschwerdeführers und damit unter Umständen ernsthafte Gefahr für Leib und Leben Dritter im Falle der Anordnung einer sofortigen Einstellung der Observation nicht auszuschließen. Außerdem muss ein möglicher Erfolg der Verfassungsbeschwerde nicht zwangsläufig in eine umgehende Einstellung der Observation des Beschwerdeführers münden, ebenso ist eine Zurückverweisung der Sache an den Verwaltungsgerichtshof denkbar.
Daher wiegen die Folgen für den Antragsteller, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, derzeit noch nicht so schwer, dass hier eine verfassungsgerichtliche Anordnung geboten wäre.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
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